Landvermessung (Seite2)

Ich sehe darin kein Befindlichkeitsproblem, keine momentane Erkrankung oder Störung, sondern das kurzzeitige Aufblitzen einer sehr grundlegenden, wenn auch schwer erträglichen Ahnung. Es ist die Ahnung, dass die Wirklichkeit, die man sich bewohnbar gemacht hat, aus ganz etwas anderem besteht als aus der Summe der Bilder, Beschreibungen, Metaphern und Erfahrungen, die man sich von ihr, über sie oder mit ihr gemacht hat. Diese Ahnung kann sich spontan einstellen, angstbesetzt und anfallartig, oder aber, bedeutend milder, nach langer intensiver Betrachtung, den Gegenständen etwas von ihrer urtümlichen Autonomie zurückgeben, dann nämlich, wenn alle Begriffe gedacht, alle Erinnerungen erinnert, alle Verknüpfungen und Verweise gezogen, alle Erklärungen herangezogen sind. Es hängt von der Perspektive ab und von der Dauer und in welches Verhältnis man sich zu den Gegenständen setzt, in welcher Form sich diese zeigen:

»Das Ungeheuerliche an diesen Dingen, oder um es noch unheimlicher auszudrücken: das nicht ganz Geheure, ist allerdings durch dicke Schichten der Gewöhnung an sie verdeckt und tritt meistens nur bei der Anstrengung zur Entfernung dieser Schichten zu Tage.« 3

Im Grunde beginnt das Territorium des nicht ganz Geheuren schon da, wo man von einem Gegenüber spricht. Gegenüber ist ein Begriff, der auf eine räumliche Situation verweist: ein Beobachter steht in einem Raum einem Gegenstand gegenüber, den er betrachtet. Das Gegenüber ist außerhalb, auch wenn alle Erklärungsmodelle, Bilder, Worte, Erkenntnisse etc. möglicherweise funktionale Bestandteile der Wirklichkeitswahrnehmung sind, Instrumentarium zur Konstruktion von Wirklichkeit, somit scheinbar dem Territorium des Beobachters zugehörig. Doch auch dieses Instrumentarium kann Beobachtetes und zu einem Außerhalb werden, somit wieder zu einem Gegenüber, Teil der Welt also, in der man sich zu verorten gewohnt ist. Die Angewohnheit sich zu gewöhnen, damit auch zu bewohnen, damit auch zu benennen und sich zufrieden zu geben mit Konstruktionen der Wirklichkeit vertreibt das nicht ganz Geheure hinter die Grenze des Gewöhnlichen und Benennbaren.  Damit wird ein kontrollierbarer Raum geschaffen, wie beispielsweise durch die Mauern einer Stadt:

»[...] bevor die Stadtmauern militärische Anlagen wurden, waren sie eine magische Verteidigung, denn sie umgrenzten inmitten eines ‘chao­tischen’, von Dämonen und Larven bevölkerten Raumes eine Enclave, einen organisierten, ‘kosmisierten’ Raum, also ein Gebiet mit einem Zentrum.« 4

Heute ist diese magische Verteidigungslinie seltsam verschoben. Der Standpunkt des Beobachters (und es handelt sich hierbei tatsächlich um einen Punkt, dessen räumliche und zeitliche Ausdehnung gleich Null ist, denn alles, was sich sich in Raum und Zeit ausdehnt, kann Objekt der Betrachtung werden) bildet das Zentrum dieses kosmisierten Gebietes. Die Grenze zum Territorium des nicht  ganz Geheuren um­schließt wie eine zweite Haut jedes einzelne Ding, eine bis in die Ebene der Atome und noch tiefer herabreichende endlos gefaltete und verzweigte Stadtmauer.


1 Witold Gombrowicz, Kosmos, München 1985
2 Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Hamburg 1959
3 Vilém Flusser, Dinge und Undinge, München 1998
4 Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige, Frankfurt 1986

 

 

 

 

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